OÖ-Nachrichten Bericht: „Waisenkinder werden zur Ware degradiert!“

OÖ-Nachrichten Bericht: „Waisenkinder werden zur Ware degradiert!“

SCHÄRDING, LINZ. „Braveaurora“-Obfrau Christin ter Braak-Forstinger, die aus Schärding stammt, macht mit ihrem Team auf die negativen Aspekte des „Voluntourismus“ in Afrika aufmerksam.

Wenn Christin ter Braak-Forstinger von ihren Erfahrungen in Ghana erzählt, hat man das Gefühl, selbst dort gewesen zu sein. Die Obfrau des Vereines „Braveaurora“, den die gebürtige Schärdingerin 2009 mit drei Mitstreiterinnen gegründet hat, erklärt im Interview, warum ihr afrikanische Waisenkinder so am Herzen liegen, wie nachhaltige Entwicklungsarbeit funktioniert und spricht über das „schmutzige Geschäft“ mit Freiwilligen.

OÖN: Braveaurora macht auf das boomende Geschäft mit Freiwilligen aufmerksam. Was steckt dahinter?

Ter Braak-Forstinger: Wie macht BA auf das boomende Geschäft mit Freiwilligen aufmerksam. Was steckt dahinter?

Eines unserer Hauptprojekte vor Ort ist unser Young Ambassador Projekt, bei dem wir gemeinsam mit den ehemaligen Waisenkindern von Guabuliga die Botschaft in andere Dörfer im Norden von Ghana hinaustragen, dass „Waisenhäuser Waisenkinder schaffen“ und nicht im besten Interesse der Kinder sind. Warum ist das so? Viele junge europäische – und internationale – Menschen wollen in Ihrem Urlaub Gutes tun und gerne Kinder dabei unterstützen. Die Motive sind durchaus nobel. Aber die Wirkung ist fatal. Unser ehemaliger Projektleiter in Ghana hat es mit seinem Buch „Das Gegenteil von gut – ist gut gemeint“ auf den Punkt gebracht.

Das ökonomische Prinzip, dass sich jedes Angebot seine Nachfrage schafft ist nicht neu. So ist das auch mit Waisenkindern. Im Urlaub kurz mal schnell die Welt retten und ein paar Kinder streicheln – längst hat man in vielen Teilen Afrikas und anderen Entwicklungsländern der Welt erkannt, dass sich aus den großen Kulleraugen ein gutes Geschäft entwickeln lässt. Im Internet wimmelt es von Veranstaltern, die Freiwilligenarbeit und Tourismus verbinden (Voluntourismus) und dadurch Angebote geschafft haben, bei denen man bereits oft ab sieben Tagen offenbar Sinnvolles mit Urlaub verbinden kann. Solche Angebote sind natürlich nicht umsonst und zu einem lukrativen Geschäft geworden. In fast allen Fällen erfordern sie keinerlei Vor-Qualifikation. Die wirklich essentielle Frage ist aber: Wem nützt es etwas und was kommt bei den Betroffenen wirklich an? Es ist schon bizarr, wenn jemand – sei es auch einem noch so guten Motiv heraus – für zwei Wochen in ein Waisenhaus geht und glaubt dort etwas Positives bewirken zu können. Die betroffenen Waisenkinder sind dadurch permanenten Beziehungsabbrüchen ausgesetzt und werden so zur „Ware degradiert“. Das ist jedenfalls das was wir in Nord-Ghana beobachtet haben. Viele Waisenkinder haben noch einen Familienteil oder eine erweiterte Familie und werden nur dann in ein Waisenhaus geschickt, wenn die zahlungskräftigen Freiwilligen eintreffen – zu anderen Zeitpunkten stehen die Häuser leer. Ein Business ist geboren, bei dem Mittelsmänner – meistens die Betreiber dieser illegalen Waisenhäuser – eine nicht unbeträchtliche Vermittlungsbüro einstecken. Wir bei „Braveaurorar“ grenzen uns ganz klar gegen Voluntourismus ab. Bei uns geht es nicht um Selbstverwirklichung oder darum einen Streichelzoo zu schaffen. Wir haben uns von Anfang an ganz klar zum Ziel gemacht: nachhaltige, wirkungsvolle Entwicklungszusammenarbeit zu machen.

OÖN: Sie waren Anfang Februar selbst in Ghana. Wie ist die Situation dort bzw. welche Eindrücke haben Sie mitgenommen?

Wenn man sieht wie selbstbewusst die ehemaligen Waisenkinder sind, die heute in unserem Young Ambassador Program mitarbeiten und selbst zu Botschaftern der Re-Integration geworden sind, dann weiß man zumindest, wir sind am richtigen Weg. Da fällt mir insbesondere ein längeres Gespräch mit Rahi ein, ein Mädchen das heute 18 ist und damals, als wir vor neun Jahren das erste Mal nach Guabuliga kamen, mit ihren drei Geschwistern im ehemaligen Waisenhaus von Guabuliga gelebt hat, nicht zur Schule ging und total eingeschüchtert war. Heute lebt Rahi wieder mit ihren Geschwistern im Compound ihrer Mutter in Guabuliga. Rahi steht kurz vor ihrem Schulabschluss in der höherbildenden Schule und ist eine stolze Young Ambassador, die aus tiefster Überzeugung heute von den Nachteilen des Aufwachsens in einem Waisenhaus berichtet. Rahi, ich und zwei weitere Teammitglieder waren bei einer Radiostation und haben auch dort über das Waisenhaus-Business gesprochen, um die lokale Bevölkerung aufzuklären. Als ich die selbstbewusste Rahi neben mir sprechen sah hatte ich Tränen in den Augen.

OÖN: Auch ihr Verein sucht qualifizierte Freiwillig für Auslandseinsätze in Ghana. Gibt es genügend Interessenten bzw. wie erfolgt die Auswahl und welche Aufgaben übernehmen diese in Afrika?

Bei Braveaurora sind wir natürlich sehr über die Unterstützung von Freiwilligen dankbar. Der große Unterschied zum Voluntourismus ist allerdings: bei uns muss man nichts für den Einsatz zahlen, allerdings muss man dafür qualifiziert sein und einen schriftlichen und mündlichen Bewerbungsprozess durchlaufen. Und da trennt sich die Spreu vom Weizen. Wir haben umfassende Kriterien entworfen die für einen Freiwilligeneinsatz in Ghana erforderlich sind. Dazu gehören entsprechende Qualifikation und Alter, aber auch ein Mindestaufenthalt von sechs Monaten, damit der Einsatz wirklich nachhaltige Wirkung entfalten kann. Eine adäquate Vorbereitung gehört da natürlich ebenso dazu. Wir legen mit unseren Freiwilligen bereits in Österreich genau fest, in welchem Projekt und in welchem Bereich der Einsatz des Freiwilligen am wirkungsvollsten ist. Über die Jahre haben wir ein sehr umfassendes „Einschulungs-Dokument“ entworfen. Ebenso wird unser Team vor Ort bereits im Vorfeld miteinbezogen.

OÖN: Ein Ziel des Vereines ist die Abschaffung von Waisenhäusern in Afrika. Warum und wie soll das gelingen?

Wir machen hierzu viel Aufklärungsarbeit – insbesondere vor Ort in Nord-Ghana, aber auch hier in Österreich. Man muss sich das so vorstellen: die meisten Menschen in Nord-Ghana leben von der Landwirtschaft für den Eigenbedarf, das Bildungsniveau ist sehr tief und Bewusstseinsbildung ist hier ein Teil-Schlüssel des Erfolges. Genau hier setzt auch unser Young Ambassador Program ein.

Man muss wissen: gemäß der Richtlinien der Vereinten Nationen soll ein Waisenhaus die letzte Option für ein Kind sein. Davor sollte immer das Aufwachsen in der eigenen Familie, einer erweiterten Familie oder einer Pflegefamilie stehen. Nur falls das – nach sorgfältiger Evaluation – nicht möglich ist, sollte ein Kind in einer Institution aufwachsen. Die wenigsten Menschen wissen, dass es in Ghana und in vielen anderen afrikanischen Ländern verboten ist, ein Waisenhaus zu eröffnen. Die meisten der in Ghana operierenden Waisenhäuser sind illegal, das heißt sie haben keine Genehmigung vom Department of Social Welfare, also dem Familienministerium. Wir arbeiten eng mit dem DSW zusammen und decken solche Waisenhäuser auf. Kürzlich konnten wir eine Partnerschaft mit UNICEF abschließen, im Rahmen dessen wir gemeinsam gegen illegale Waisenhäuser in Nord-Ghana vorgehen. Für uns das sehr wichtig, denn mit UNICEF haben wir einen starken Partner an der Hand, der uns das nötige Gehör verschafft. Wir wiederum sind ein kleiner, flexibler Verein, der sich nicht davor scheut, sich „die Stiefel schmutzig zu machen“. Wir haben die nötige Flexibilität, um rasch und situativ vorzugehen. Unser zehnköpfiges Team vor Ort steht voll hinter uns und ist total motiviert, hier unser Projekt zu skalieren und zum Vorreiter in Nord-Ghana zu werden.

OÖN: Wodurch erkenne ich als Laie, ob ein Verein nachhaltige Einwicklungsarbeit leistet?

Wichtig ist es, dass Projektideen gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung entwickelt und implementiert werden. Nur dann kann eine langfristige Identifikation mit dem Projekt erfolgen und die Menschen vor Ort übernehmen auch Verantwortung. Auch wenn eine Idee, ein Vorhaben noch so gut gemeint ist, wenn die lokale Bevölkerung nicht auch von Anfang an dahinter steht und miteingebunden ist, dann ist sie typischerweise zum Scheitern verurteilt. Die Dorfbevölkerung von Guabuliga ist unser Partner auf Augenhöhe. Natürlich ist das ein kontinuierlicher Prozess, aber mit genügend Empathie und der notwendigen Konsequenz kann man zu ungemein fruchtbaren – kollaborativen und wirkungsvollen – Lösungen kommen.

OÖN: Wie schafft Braveauora es, Unabhängigkeit zu fördern und sich selbst als Organisation überflüssig zu machen?

Als wir Braveaurora im Jahr 2009 offiziell als Verein gegründet haben, haben wir in unseren Statuten das Hilfe-zur-Selbsthilfe Prinzip verankert. Das heißt, es ist tragendes Element unserer Vereinsaktivitäten. Sich als Verein überflüssig zu machen, gelingt nur dann, wenn die Projekte vom Dorf auch mitgetragen werden, bereits während der Laufzeit.

OÖN: Welche konkreten Zukunftsziele haben Sie als Obfrau von Braveauora bis 2020?

Als Obfrau von Braveaurora ist es mir wichtig, dass ich nicht von meinen Zielen spreche, sondern von „unseren“ Zielen. Über die Jahre sind wir zu einem unglaublich eingeschworenen Team geworden. Sarah und Julia sind wie Schwestern für mich. Wir sind praktisch permanent verbunden und die Distanzen zwischen Oberösterreich, der Schweiz und Ghana stellen kein Hindernis dar – außer es gibt einen Stromausfall in Guabuliga. Das ist natürlich heute über die sozialen Medien relativ einfach. Entscheidungen können dadurch noch rascher als früher getroffen werden. Dadurch, dass wir so klein sind, können wir im Vergleich zu großen Organisationen rasch und flexibel reagieren. Auch das Lernen aus Fehlern ist so natürlich einfacher.

Wir wollen uns weiterhin mit Herz und Seele gegen die Abschaffung von illegalen Waisenhäusern einsetzen. In drei Jahren wünsche ich mir eine lange Liste mit illegalen Institutionen aus Nord-Ghana vorlegen zu können, die geschlossen wurden. Vor wenigen Wochen in Ghana waren wir in einem illegalen Waisenhaus bei dem drei kleine Babys im Alter von drei bis vier Monaten einfach am Boden herumlagen. Als Mama von zwei noch sehr kleinen Kindern schnürte es mir regelrecht die Kehle zu. Aber ich sagte mir: der ganze Aufwand lohnt sich! Der Gedanke, dass diese Babys hoffentlich bald eine Familie haben werden, gab mir unendlich viel Kraft und positive Energie weiterzumachen.